Rede zum Volkstrauertag in Mendig

Veröffentlicht am 17.11.2013 in Veranstaltungen

Meine sehr geehrten Damen und Herren, 

 

„Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; 

ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; 

ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; 

ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“ 

Diese Zeilen schrieb der evangelische Theologe Martin Niemöller.

Niemöller war ein Vertreter der „Bekennenden Kirche“ und entwickelte sich erst Mitte der 30er Jahre zum Widerstandskämpfer. 1937 war er Häftling im Konzentrationslager Sachsenhausen. Niemöller ist einer, an den ich heute erinnern möchte. Aber nicht nur auf ihn möchte ich Ihren und meinen Blick in meiner Ansprache lenken. Denken wir heute an die Opfer von Gewalt, Terrorismus und Krieg, Kinder, Frauen und Männer aller Völker. Denken wir heute an die Soldaten, die in Weltkriegen ihr Leben ließen, 

an die Menschen, die in Krieg und Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge starben. Denken wir heute an die Menschen, die ermordet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, weil sie einer anderen Rasse zugerechnet wurden, weil ihr Leben wegen Krankheit oder Behinderung als „lebensunwert“ bezeichnet wurde, oder weil sie einen anderen Lebensentwurf in der damaligen Zeit hatten. Denken wir heute, an die Menschen, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime leisteten oder weil sie an ihrem Glauben, an ihren Werten und Überzeugungen festhielten. Wir trauern heute gemeinsam, um die Opfer der Kriege und der Bürgerkriege unserer Zeit, um die Opfer von politischer Verfolgung und Terrorismus. 

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, 

seit 1952 ist der zweite Sonntag vor dem Advent ein Tag des Erinnerns und Gedenkens an die Menschen, die in zwei Weltkriege ihr Leben ließen, an die Menschen, die der Nazi-Diktatur zum Opfer fielen und die Menschen, die Opfer von Gewaltherrschaft und Vertreibung wurden. Ich freue mich, dass mir die Gelegenheit zu Teil wurde, in meiner Perspektive als junger Abgeordneter anlässlich des Volkstrauertages zu Ihnen sprechen zu können. 

 

Lassen Sie meiner Rede ein Gedicht voranstellen: 

„Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. 

Wenn sie dir morgen befehlen, 

du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen – 

sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, 

dann gibt es nur eins: Sag NEIN!“ 

 

Diese Zeilen stammen vom Schriftsteller Wolfgang Borchert aus dem Herbst des Jahres 1947 – nur wenige Wochen vor seinem Tod. Der Autor selbst gehört somit zu einer Generation zahlloser Frauen und Männer, die ihr Leben in den Gefechten, in Bombennächten, in den Wochen, Monaten und Jahren des Hungers lassen mussten, die der Angriffskrieg der Nationalsozialisten nach sich zog. 

Die mahnenden Worte Borcherts bleiben bis heute bestehen. Sie erinnern uns an die Verantwortung, die wir alle, die wir als Gesellschaft, die jeder von uns auch als Einzelner trägt, damit sich diese ungeheuerliche Menschheitstragödie des zwanzigsten Jahrhunderts in Europa und der Welt nie mehr wiederholt. 

Wenn wir heute um die Opfer zweier Weltkriege trauern, so ist unser Trauern nicht passiv, nicht bloß rückwärtsgewandt. Sie ist mit jenem Anspruch verbunden, den uns Borchert mit auf den Weg gibt: Aus der Geschichte lernen und das Unrecht der Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft zu bekämpfen. Unrecht zu bekämpfen und das Recht zu stärken, dies sind überhaupt die grundsätzlichen Forderungen, an denen sich Gesellschaft und Politik immer wieder messen lassen müssen, meine sehr geehrten Damen und Herren. 

Tun wir genug, um Krieg, Terror und Leid zu vermeiden? Diese Frage stellt sich nicht nur mit Blick auf die großen, globalen Konflikte, sondern immer wieder auch im Kleinen: überall dort, wo sich Menschen begegnen, wo unterschiedliche Interessen oder Kulturen aufeinandertreffen. 

Wer vermeiden will, dass aus Unverständnis über das „Andere“ – das „Fremde“ – Gewalt wird, muss dafür sorgen – muss aktiv dafür etwas tun – , dass Toleranz und das Streben nach Verständnis und Einfühlsamkeit zur ersten Prämisse unseres gesellschaftlichen Miteinanders wird. Auch in der heutigen Zeit dringen wieder Forderungen nach einer „Null-Toleranz-Politik“, nach einem Ende des „politischen Kuschelkurses“ an die Öffentlichkeit. Ich aber frage: Was sind die Alternativen zu diesem Kurs? Mehr Härte im gesellschaftlichen Umgang miteinander? Weniger Toleranz? 

Und hat uns nicht die Geschichte gelehrt, wie schnell aus Rassismus, blindem Nationalismus und Fundamentalismus Krieg werden kann? 

Mancher wird sich vielleicht fragen, welche Relevanz diese Fragen für uns heute noch haben mögen. Sind wir nicht umgeben von befreundeten Staaten? Ist nicht die Drohkulisse eines kalten Krieges nur noch Gegenstand von Dokumentationen und Geschichtsbüchern? Ist nicht der größte Erfolg des geeinten Europas seit 1945, dass Länder, die sich zuvor in historischer Feindschaft gegenüberstanden, heute in tiefer Freundschaft miteinander verbunden sind? Man möchte diese Fragen allzu euphorisch mit einem klaren Ja beantworten. Doch vergessen wir nicht: All diese Erfolge sind keine Selbstverständlichkeiten. Sie mussten erst geschaffen werden, von Menschen, die die Annäherung aneinander suchten und bereit waren, persönliche wie politische Verantwortung zu übernehmen. 

 

Mein sehr verehrten Damen und Herren, 

ich gehöre zu einer Generation, die weder den Krieg, noch seine Folgen jemals unmittelbar selbst erleben musste. 

 

Meine Damen und Herren, 

ich gehöre mit meinen gut 30 Jahren zu einer Generation, die sich nur schwerlich vorstellen und nachempfinden kann, was meine Großeltern und ihre Generation durchlebt haben. 

Meine Großmutter, 1929 geboren, lebte mit ihrer Familie in der Kölner Südstadt, bis ihr Haus ausgebombt wurde, sie ihr ganzes Hab und Gut verloren und zu ihren Verwandten nach Mendig zog. Mein Großvater, 1925 geboren, wurde als 16-jähriger zur Wehrmacht eingezogen, zunächst war er Soldat in Frankreich, später in Russland. 

Wenn wir früher zusammen saßen und meine Großeltern mir über ihr Erlebtes aus dieser Zeit berichteten, so endet das Gespräch mit einem Satz, der mir in den Ohren ist: Nie wieder Krieg. 

In Erinnerung geblieben sind mir insbesondere zwei der Geschichten, die mir meine Großeltern erzählten: Vielen von Ihnen ist das bittere Schicksal von Pfarrer Bechtel und Kaplan Schlicker sicher bekannt. Trotzdem will ich an diese beiden für Mendig prägenden Widerstandskämpfer erinnern. 

Pfarrer Josef Bechtel war 1929 nach Niedermendig gekommen. Gemeinsam mit seinem Kaplan Peter Schlicker stellte er sich immer wieder gegen die Nazi-Ideologie. Mein Großvater, der Bechtel noch kannte, beschrieb ihn als mutigen, beherzten, integeren und beharrlich auftretenden Mann, der für seinen katholischen Glauben und seine damit verbunden Überzeugungen eintrat. 

Kaplan Schlicker muss sich in einer seiner Predigten offensiv gegen die NSDAP-Zeitung „Der Stürmer“ gewandt haben, was eine Anzeige wegen Kanzelmissbrauchs nach sich zog. Der wohl wahre Grund der Verhaftung lag darin, dass Schlicker für die Unauflösbarkeit der christlichen Ehe und damit gegen die auflösbare „staatliche geschützte“ Zivilehe eingetreten war, worin ihn Pfarrer Bechtel unterstützte. 

Im Jahre 1941 kamen Bechtel und Schlicker in Haft in Koblenz und wenige Wochen später in das Konzentrationslager Dachau, wo Bechtel am im August 1942 den Hungertod erlitt. Im Jahre 1945 verstarb Schlicker im Alter von 36 Jahre an Typhus in einem Salzburger Krankenhaus. 

 

Meine Damen und Herren, 

es gab auch jungen Widerstand in unserer Heimat. So will ich die Michaelstruppe nicht unerwähnt lassen. Sie war eine katholische Jugendorganisation. Im Jahr 1942 von zwei 15-jährigen Schülern des Stiftsgymnasium Kurfürst Salentin in Andernach ins Leben gerufen und bereitete sich auf eine bewaffnete Auseinandersetzung nach Kriegsende vor. Mit ihrer Namensgebung „Michaelstruppe“ stellte sich die Gruppe unter den Schutz des Erzengels Michael, des Schutzpatrons der Deutschen. Neben Willi Lohner aus Mendig und Hans-Clemens Weiler aus Kruft sind auch Franz Reiff und Ludwig Schütz aus Kruft zu nennen, die der 50-köpfigen Widerstandsgruppe angehörten. Die Gruppe traf sich heimlich in einer Kapelle auf dem Korretberg oberhalb von Kruft mit dem Ziel, im Wege der Spionage an Informationen über Konzentrationslager und über militärische Anlagen zu gelangen. Als Briefe im August 1943 abgefangen wurden, wurden Weiler und Lohner und weitere Mitglieder der Michaelstruppe verhaftet und auf Burg Stahleck, ein Umerziehungs- und Jugenddienstlager, verbracht. Auf Druck des damaligen Schulleiters des Stiftsgymnasiums wurden die „Mitläufer“ entlassen; Weiler und Lohner wurden ins Jugend-KZ Moringen/Solling deportiert und mussten dort in der Waffenproduktion Zwangsarbeit leisten. Beide überlebten die schreckliche Zeit im KZ. 

 

Meinen Damen und Herren, 

meine Großeltern haben die Erinnerung bei mir wachgehalten, darüber bin ich froh und dankbar - ich hoffe, dass mir dies auch bei Ihnen gelingen mag. 

 

Meinen Damen und Herren, 

nicht ganz ohne Grund habe ich die Geschichte der Salentin-Schüler der Michaelstruppe ausgewählt. Blicken wir heute auf dieses Gymnasium – und dies gilt für viele Schulen in unserem Land – sie leisten heute mit Zeitzeugengesprächen und ihren vielfältigen Initiativen einen wichtige Beitrag zum Erinnern, aber nicht nur das. 

Es ist bemerkenswert, wie groß das Engagement unserer Schulen für Demokratie, für Toleranz und gegen Rassismus ist. So haben fast alle Schüler „meines alten“ Kurfürst-Salentin-Gymnasiums mit Ihren Unterschrift ein klares Bekenntnis für eine Schule für Toleranz und gegen Rassismus abgegeben. 2012 wurde die Schule als Projektschule für Toleranz gegen Rassismus ausgezeichnet. Das ist ein wirklich gutes und ermutigendes Zeichen, das es mit Leben zu füllen gilt, – dies sage ich exemplarisch für unsere Schulen. 

 

Mein Damen und Herren, 

lassen Sie mich schließen mit den Worten von Bundespräsident Richard von Weiszäcker. Er setzt noch einen neuen Akzent – ganz im Sinne von Borcherts Apell – in seiner viel beachteten Rede am 8. Mai 1985 vor dem deutschen Bundestag: 

„Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird." 

Und ich möchte ergänzen: Wir sind verantwortlich, was in unserer Geschichte wird. 

Lassen Sie uns in diesem Sinne die Erinnerung wachhalten und aktiv gedenken. 

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Hier finden Sie die Rede als .pdf!

 

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